Nachfolgend ein Beitrag vom 20.4.2016 von Schulze, jurisPR-ArbR 16/2016 Anm. 5
Orientierungssätze zur Anmerkung
1. Wird das Anlegen und Tragen einer bestimmten Kleidung im Betrieb vom Arbeitgeber vorgeschrieben, sind die hierfür anfallenden Zeiten als Arbeitszeiten vergütungspflichtig.
2. Weist der Arbeitgeber den Arbeitnehmer an, die Arbeitskleidung an einem bestimmen Ort auf dem Betriebsgelände an- und abzulegen, welcher vor der Stempeluhr und damit der Möglichkeit, die Arbeitszeit nachweisbar zu erfassen, liegt, sind auch die erforderlichen Wegezeiten vom Umkleideort zur Stempeluhr vergütungspflichtig.
3. Die vertragliche Klausel „Wegezeiten zu bzw. von den Stempeluhren oder Pausenräumen sind leistungsentgeltfrei“ steht der Vergütungspflicht des Arbeitgebers nicht entgegen, da sie einer AGB-Kontrolle nicht standhält.
4. Die zeitlichen Aufwände, die für das tägliche Umkleiden sowie die zurückzulegenden Wege anfallen, hat der Arbeitnehmer zu dokumentieren. Er trägt diesbezüglich die volle Darlegungs- und Beweislast. Eine Schätzung durch das Gericht ist grundsätzlich nach § 287 ZPO möglich. Die Zulässigkeit einer Schätzung setzt aber voraus, dass der Anspruchsteller ausreichend greifbare Anhaltspunkte für eine Schätzung vorträgt.
A. Problemstellung
Haben Arbeitnehmer für das An- und Ablegen vorgeschriebener Dienstkleidung sowie die Wege von und zu der Zeiterfassungsanlage einen Anspruch auf Vergütung?
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Parteien streiten um einen Anspruch des klagenden Arbeitnehmers auf Vergütung von Umkleide- und innerbetrieblichen Wegezeiten aus einem beendeten Arbeitsverhältnis.
Der Arbeitnehmer war im Betrieb der Arbeitgeberin auf Stundenlohnbasis im Bereich der Lebensmittelproduktion beschäftigt. Der Beschäftigung lag ein Arbeitsvertrag zugrunde, wonach der Mitarbeiter verpflichtet war, aufgrund der im Betrieb geltenden Hygieneverordnung die Arbeit täglich in einer von der Arbeitgeberin vorgegebenen Arbeitskleidung anzutreten. Geregelt war zudem, dass der Mitarbeiter die Bedienung der Zeiterfassungsanlage, d.h. das Ein- und Ausstempeln, bereits eingekleidet auszuführen hatte. Die Wegezeiten zu bzw. von den Stempeluhren sollten entgeltfrei sein.
Mit Erhebung der Zahlungsklage machte der Arbeitnehmer Arbeitsentgelt für Umkleide- und Wegezeiten von täglich jeweils 30 Minuten geltend. Das Arbeitsgericht gab dem klagenden Mitarbeiter insoweit Recht, als ihm dem Grunde nach Arbeitsentgelt für die täglich angefallenen Zeiten für An- und Entkleiden sowie die sich daran anschließenden Wege zu und von der Zeiterfassungsanlage zugesprochen wurde (ArbG Paderborn, Urt. v. 05.08.2015 – 2 Ca 62/15), da es sich bei den Umkleide- und innerbetrieblichen Wegezeiten um vergütungspflichtige Arbeitszeit handelt. Die vertragliche Regelung, Wegezeiten sollten leistungsentgeltfrei sein, hielt der durchgeführten AGB-Kontrolle nicht stand. Betreffend die Höhe des geltend gemachten Zahlungsanspruchs hat das Arbeitsgericht die Klage im Übrigen abgewiesen. Nach Auffassung des Gerichts hatte der klagende Arbeitnehmer die von ihm behauptete tägliche Zeitspanne von 30 Minuten nicht substantiiert dargelegt, so dass nach Schätzung des Gerichts der Berechnung der Vergütung lediglich eine Zeitspanne von täglich jeweils 15 Minuten zugrunde gelegt wurde.
Das LArbG Hamm hat die Berufungen beider Parteien als unbegründet zurückgewiesen.
Das Berufungsgericht teilt die Rechtsauffassung des Arbeitsgerichts, dass zu den versprochenen Diensten, die der Arbeitnehmer gem. § 611 Abs. 1 BGB gegen Entgelt leisten muss, nicht nur die eigentliche berufsmäßige Tätigkeit zählt, sondern jede vom Arbeitnehmer verlangte Tätigkeit, die ausschließlich im Interesse des Arbeitgebers liegt. Vorliegend habe die Arbeitgeberin dem Mitarbeiter die Verpflichtung auferlegt, seine Arbeit in sauberer Dienstkleidung anzutreten und zu verrichten. Hintergrund sind die im Betrieb geltende Hygieneverordnung sowie anderweitige verwaltungsrechtliche Hygienevorschriften, die die Arbeitgeberin einzuhalten hat. Die Mitarbeiter waren überdies angewiesen, die Kleidung an einem bestimmten Ort innerhalb des Betriebsgeländes an- und abzulegen. Der gesamte Vorgang fand somit ausschließlich im Interesse der Arbeitgeberin statt. Die vertragliche Klausel stand einer Vergütungspflicht nicht entgegen, da diese auf die Thematik „Umkleidezeiten“ bereits dem Wortlaut nach keine Anwendung fand.
Betreffend die zeitlichen Intervalle und somit der Höhe des Vergütungsanspruchs folgte das Landesarbeitsgericht der in der ersten Instanz vorgenommenen Schätzung. Die Vorschriften des § 287 Abs. 1 Satz 1 und 2 ZPO gelten bei vermögensrechtlichen Streitigkeiten entsprechend, so dass demnach auch eine Schätzung des Umfangs von Erfüllungsansprüchen möglich ist.
Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfrage im Hinblick auf die Auslegung der Klausel zur Entgeltfreiheit im Arbeitsvertrag sowie zur Schätzung der maßgebenden Zeitspannen wurde die Revision für beide Parteien zugelassen. Das Revisionsverfahren ist vor dem BAG anhängig unter dem Az. 5 AZR 127/16.
C. Kontext der Entscheidung
Die Auffassung, dass es sich bei Umkleidezeiten und den damit im Zusammenhang stehenden innerbetrieblichen Wegezeiten um vergütungspflichtige Arbeitszeit handelt, steht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des BAG (u.a. BAG, Urt. v. 19.09.2012 – 5 AZR 678/11). Voraussetzung ist dabei stets, dass der Arbeitgeber das An- und Entkleiden im Betrieb angeordnet hat und es sich daher um einen Teil der Arbeitsleistung handelt, der ausschließlich fremdnützig ist.
Dies gilt grundsätzlich nicht nur im Hinblick auf die vergütungsrechtliche, individualrechtliche Komponente, sondern auch mit Blick auf das Betriebsverfassungsgesetz. So hat das BAG zuletzt mit Beschluss vom 17.11.2015 (1 ABR 76/13) entschieden, dass es sich bei vorgegebenen Umkleidezeiten um betriebliche Arbeitszeit i.S.d. § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG handelt und dem Betriebsrat ein erzwingbares Mitbestimmungsrecht zusteht.
D. Auswirkungen für die Praxis
Es ist davon auszugehen, dass sich das BAG im Hinblick auf die Vertragsklausel den rechtlichen Ausführungen der Vorinstanzen anschließt. Insbesondere das Berufungsgericht hat ausführlich und rechtsmittelfest die Nichtanwendbarkeit der den Vergütungsanspruch potentiell ausschließenden Vertragsklausel hergeleitet. Es muss sich jedoch bewusst gemacht werden, dass es sich hierbei um eine Einzelfallentscheidung handelt, die insbesondere vom individuellen Wortlaut der Klausel geprägt ist. Ein Ausschluss der Vergütungspflicht für Umkleide- und innerbetriebliche Wegezeiten wird den Arbeitgebern nicht per se unmöglich gemacht. Es gilt daher für Arbeitnehmer bei Abschluss eines Arbeitsvertrags genau prüfen zu lassen, ob vertragliche Klauseln den – grundsätzlich bestehenden – Vergütungsanspruch für Umkleide- und innerbetriebliche Wegezeiten ausschließen. Soweit ein Betriebsrat besteht, bietet es sich an, die Thematik in einer Betriebsvereinbarung umfassend zu regeln.