Nachfolgend ein Beitrag vom 17.1.2017 von Götsche, jurisPR-FamR 1/2017 Anm. 7

Leitsätze

1. Für die Einhaltung der an die gesteigerte Erwerbsobliegenheit i.S.d. § 1603 Abs. 2 BGB zu stellenden Anforderungen trägt der Unterhaltspflichtige die Darlegungs- und Beweislast. Insoweit ist ein umfassender Vortrag erforderlich.
2. Im Rahmen der gesteigerten Erwerbsobliegenheit des § 1603 Abs. 2 BGB können dem Unterhaltspflichtigen fiktive Einkünfte aus einer Nebentätigkeit zugerechnet werden, soweit ihm eine solche Tätigkeit unter Abwägung seiner von ihm darzulegenden besonderen Lebens- und Arbeitssituation sowie gesundheitlichen Belastung mit der Bedarfslage des Unterhaltsberechtigten zumutbar ist.
3. Dabei ist unter anderem zu prüfen, ob es Nebentätigkeiten entsprechender Art überhaupt auf dem Arbeitsmarkt gibt und ob der Aufnahme einer solchen Tätigkeit rechtliche Hindernisse entgegenstünden, wobei auch insoweit die Darlegungs- und Beweislast beim Unterhaltspflichtigen liegt.

A. Problemstellung

Welche Anforderungen sind an einen vollzeitig Erwerbstätigen zu stellen, wenn es um die Ausübung eines Nebenjobs zwecks Erfüllung seiner gesteigerten Erwerbsobliegenheiten geht?

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der bei seiner Mutter lebende minderjährige Antragsteller begehrt von seinem Vater, dem Antragsgegner, die Zahlung des Mindestunterhalts. Jedes zweite Wochenende findet in der Zeit von Freitag 18:00 Uhr bis Sonntag 18:00 Uhr Umgang im Haushalt des Antragsgegners statt.
Der 1984 geborene Antragsgegner ist gelernter Fahrzeuglackierer und hat bis Ende Juli 2016 eine vollschichtige Tätigkeit auf Basis einer 40-Stundenwoche ausgeübt, durch die sich ein monatliches Nettogehalt i.H.v. durchschnittlich 1.264,82 Euro ergab. Das Arbeitsverhältnis wurde arbeitgeberseitig zum 31.07.2016 ordentlich gekündigt. Seit August 2016 bezieht der sich auf Arbeitsunfähigkeit berufende Antragsgegner Krankengeld i.H.v. monatlich netto 1.005 Euro.
Das OLG Bremen hat ausgeführt, dass für den Antragsgegner bis zur arbeitgeberseitigen Kündigung seines früheren Arbeitsverhältnisses keine Obliegenheit bestanden habe, sich eine besser bezahlte vollschichtige Tätigkeit zu suchen. Jedoch sei dem tatsächlich nicht vollständig leistungsfähigen Antragsgegner für die Dauer der Erwerbstätigkeit ein zusätzliches fiktives Einkommen aus einer sechs Wochenstunden umfassenden Nebentätigkeit von monatlich 221 Euro (8,50 Euro Mindestlohn x 6 Wochenstunden x 52 Wochen/12 Monate) und ab Januar 2017 von monatlich 229,84 Euro (8,84 Euro erhöhter Mindestlohn x 6 Wochenstunden x 52 Wochen/12 Monate) zuzurechnen.
Die Ausübung eines solchen Nebenerwerbs sei dem Antragsgegner sowohl angesichts des § 3 ArbZG als auch der schützenswerten Umgangskontakte zumutbar. Daran ändere weder die vom Antragsgegner behauptete Arbeitsunfähigkeit noch die arbeitgeberseitig erfolgte Kündigung des Arbeitsverhältnisses etwas. Der Antragsgegner habe bislang seine gesundheitliche Beeinträchtigung und das Ausmaß der Minderung seiner Arbeitsfähigkeit nicht hinreichend dargelegt. Zudem habe er verabsäumt darzulegen, dass es ihm nicht möglich sei, eine andere Arbeitsstelle mit jedenfalls gleichhohen Verdienstmöglichkeiten zu finden.

C. Kontext der Entscheidung

Für seine die Sicherung des Mindestunterhalts nach § 1612a BGB betreffende Leistungsunfähigkeit sowie für die Einhaltung der an die gesteigerte Erwerbsobliegenheit i.S.d. § 1603 Abs. 2 BGB zu stellenden Anforderungen ist der Unterhaltspflichtige in vollem Umfang darlegungs- und beweisbelastet (BGH, Beschl. v. 22.01.2014 – XII ZB 185/12 – FamRZ 2014, 637). § 1603 Abs. 2 BGB verpflichtet die Eltern zum bestmöglichen Einsatz der eigenen Arbeitskraft. Fiktiv erzielbare Einkünfte sind zu berücksichtigen, wenn der Unterhaltsverpflichtete eine ihm mögliche und zumutbare Erwerbstätigkeit unterlässt, obwohl er diese „bei gutem Willen“ ausüben könnte. Die Zurechnung fiktiver Einkünfte setzt neben dem Fehlen subjektiver Erwerbsbemühungen des Unterhaltsschuldners voraus, dass die zur Erfüllung der Unterhaltspflichten erforderlichen Einkünfte für den Verpflichteten objektiv erzielbar sind. Eltern müssen dabei auch Gelegenheitsarbeiten oder berufsfremde Tätigkeiten unterhalb ihrer gewohnten Lebensstellung übernehmen (BGH, Urt. v. 28.11.2012 – XII ZR 19/10 – FamRZ 2013, 278). Für die Feststellung, dass für einen Unterhaltsschuldner keine reale Beschäftigungschance besteht, sind – insbesondere im Bereich der gesteigerten Unterhaltspflicht nach § 1603 Abs. 2 BGB – strenge Maßstäbe anzulegen (BGH, Beschl. v. 22.01.2014 – XII ZB 185/12). Insofern ist ein umfassender Vortrag erforderlich (Viefhues, FF 2012, 481, 483 f. m.w.N.).
Diese strengen Anforderungen gelten auch für die fiktive Zurechnung eines Nebenerwerbs. Dem Unterhaltspflichtigen muss eine solche Tätigkeit im Einzelfall zumutbar sein (BVerfG, Beschl. v. 05.03.2003 – 1 BvR 752/02 – FamRZ 2003, 661). Ferner ist zu prüfen, ob es Nebentätigkeiten entsprechender Art überhaupt auf dem Arbeitsmarkt gibt und der Aufnahme einer solchen Tätigkeit wiederum keine rechtlichen Hindernisse entgegenstünden, wobei auch insoweit die Darlegungs- und Beweislast beim Unterhaltspflichtigen liegt (vgl. BVerfG, a.a.O.). Gemäß § 3 ArbZG darf die werktägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer acht Stunden nicht überschreiten, insgesamt daher 48 Wochenarbeitsstunden. Ferner ist zu gewährleisten, dass dem Unterhaltspflichtigen ausreichend Zeit bleibt, um Umgang mit seinen Kindern pflegen zu können (BVerfG, a.a.O.), d.h. der Umgang erlangt Vorrang vor der Existenzsicherung des Kindes.

D. Auswirkungen für die Praxis

Die Zurechnung fiktiver Einkünfte beim Unterhaltspflichtigen hängt vor allem von dessen persönlichen Voraussetzungen wie beispielsweise Alter, beruflicher Qualifikation, Erwerbsbiografie und Gesundheitszustand sowie vom Vorhandensein entsprechender Arbeitsstellen ab (BVerfG, Beschl. v. 18.06.2012 – 1 BvR 1530/11 – FamRZ 2012, 1283). Dies gilt in verschärftem Maße auch für Zurechnung eines Nebenerwerbs. Es ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang es dem betreffenden Unterhaltspflichtigen unter Abwägung seiner von ihm darzulegenden besonderen Lebens- und Arbeitssituation sowie gesundheitlichen Belastung mit der Bedarfslage des Unterhaltsberechtigten zugemutet werden kann, eine Nebentätigkeit auszuüben. Zu alledem ist ein eingehender Sachvortrag des Unterhaltpflichtigen geboten. Dieser hat zudem darzulegen, dass er trotz intensiver Anspannung aller Kräfte keine Erwerbstätigkeit finden konnte. Dies betrifft auch die Ausübung eines Nebenerwerbs. Bei verbleibenden Zweifeln ist er im Rahmen zumutbar erzielbarer (Neben-)Einkünfte als leistungsfähig zu behandeln.

E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung

Einem Unterhaltspflichtigen, der schuldlos seine Arbeitsstelle verliert, ist regelmäßig eine Übergangszeit hinsichtlich der Suche nach Arbeit von bis zu sechs Monaten zuzubilligen (vgl. Viefhues in: jurisPK-BGB, 7. Aufl., § 1603 Rn. 509 ff.). Der Unterhaltspflichtige muss sich aber innerhalb der Übergangszeit zumindest arbeitslos melden und eine gewisse Anzahl von Erwerbsbemühungen anstrengen, ansonsten kann die Frist verkürzt oder gar gestrichen werden (Götsche in: Rahm/Künkel, Handbuch Familien- und Familienverfahrensrecht, 72. Lieferung 06.2016, B. Arbeitslosengeld I Rn. 97). Im vorliegenden Fall fehlte es an entsprechenden Darlegungen des Antragsgegners, weshalb ihm das OLG Bremen keine solche Frist zugebilligt hat.