Fast fünf Jahre Verzögerungsrüge und Entschädigungsklage – eine Bilanz

Überlange Gerichtsverfahren: Handlungsoptionen und Anwaltspflichten
Prof. Dr. Reinhard Greger, Erlangen
Der Autor ist ehemaliger Professor der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg (Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht und freiwillige Gerichtsbarkeit) sowie Richter am BGH a. D.

Quelle: Greger, AnwBl 2015, 536-540

Langdauernde Prozesse gehören zu den Grundübeln der Rechtspflege. Gesetzgebung und Rechtsprechung haben in jüngster Zeit versucht, ihnen zu Leibe zu rücken. Mit dem am 3. Dezember 2011 in Kraft getretenen Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGRG) sollte alles besser werden. Für den Anwalt ergeben sich daraus neue Möglichkeiten, aber auch neue Risiken. Der Autor zieht nach fast fünf Jahren eine erste Bilanz und gibt Anwältinnen und Anwälte konkrete Hinweise für die Praxis. Vor allem die Verzögerungsrüge ist ein Muss, sobald der Rechtsanwalt Anhaltspunkte für eine zögerliche Sachbehandlung des Gerichts erkennt.

I. Lange Verfahrensdauer als Rechtsschutzdefizit

Gerichtsverfahren dauern in Deutschland nicht generell zu lang. In (nicht ganz seltenen) Einzelfällen vergehen bis zum Abschluss eines Prozesses aber 8, 10, 15 oder sogar 25 Jahre. Dies ist für alle Beteiligten, auch für die Anwaltschaft, in hohem Maße belastend und mit dem Gebot eines effizienten Rechtsschutzes nicht vereinbar. Schon wiederholt hat das BVerfG daher bekräftigt:

Die aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Rechtsschutzgarantie gewährleistet in zivilrechtlichen Streitigkeiten – ebenso wie Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG für den Bereich des öffentlichen Rechts – nicht nur, dass überhaupt ein Rechtsweg zu den Gerichten offensteht. Sie garantiert vielmehr auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Das Rechtsstaatsprinzip fordert im Interesse der Rechtssicherheit, dass strittige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit geklärt werden.

Ein Gericht verstößt demnach gegen die Verfassung, wenn es ein Verfahren nicht in angemessener Zeit zum Abschluss bringt. Eine übermäßige Prozessdauer verletzt aber auch die Europäische Menschenrechtskonvention. Diese bestimmt in Art. 6, dass jede Person ein Recht auf Verhandlung ihrer Sache vor Gericht „innerhalb angemessener Frist“ hat.

Der EGMR hat wiederholt gerügt, dass deutsche Gerichte diesem Menschenrecht auf effizienten Rechtsschutz nicht genügend Rechnung tragen. In einer Entscheidung vom 2. September 2010 hat er angeführt, dass bereits mehr als 40 Urteile gegen Deutschland gefällt werden mussten, in denen eine überlange Dauer von Gerichtsverfahren festzustellen war. Darüber hinaus habe die Bundesregierung seit 2006 in 28 Fällen einen Vergleich geschlossen und in acht Fällen eine einseitige Verpflichtungserklärung abgegeben. Zurzeit seien 55 Beschwerden gegen Deutschland wegen der Dauer von Gerichtsverfahren anhängig. Der EGMR schloss daraus:

Die überlange Dauer gerichtlicher Verfahren ist in Deutschland ein allgemeines Problem, das den meisten für Deutschland festgestellten Konventionsverletzungen zu Grunde liegt. Mehr als die Hälfte der Urteile gegen Deutschland betreffen diese Frage… Diese Konventionsverletzungen sind die Folge von Unterlassungen Deutschlands und das Ergebnis einer mit der Konvention nicht vereinbaren Praxis.

Nachdem er bereits im Jahre 2006 ausgesprochen hatte, dass Deutschland nach Art. 13 EMRK verpflichtet sei, einen Rechtsbehelf gegen überlange Gerichtsverfahren einzuführen, und bis 2010 nichts Entsprechendes geschah, konstatierte er „ein so gut wie vollkommenes Widerstreben dagegen, das Problem in angemessener Zeit zu lösen“, und ordnete an, dass Deutschland nunmehr ohne Verzögerung, spätestens binnen eines Jahres, einen Rechtsbehelf oder mehrere gegen überlange Gerichtsverfahren zu schaffen habe.

II. Reaktion des deutschen Gesetzgebers

Diese durchaus als drastisch zu bezeichnende Intervention führte dazu, dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf erstellte, der bereits im vorparlamentarischen Verfahren erhebliche Abschwächungen erfuhr und schließlich unter leichter Überschreitung der vom EGMR gesetzten Frist zum Erlass des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (ÜGRG) vom 24. November 2011 führte.

Mit diesem Gesetz wurden zwei neue Rechtsinstitute geschaffen: Verzögerungsrüge und Entschädigungsklage (§§ 198 ff. GVG). Nunmehr kann in allen Gerichtsbarkeiten eine nach den Gesamtumständen unangemessene Verfahrensdauer beim Prozessgericht gerügt und sechs Monate nach der Rüge Klage auf eine billige Entschädigung erhoben werden.

1. Grundgedanken der Regelung

Wegen der Nachteile durch eine rechtswidrige Verfahrensdauer soll eine verschuldensunabhängige Entschädigung eingeklagt werden können, sofern die Verzögerung gegenüber dem erkennenden Gericht gerügt und daraufhin mindestens sechs Monate zugewartet wurde (§ 198 Abs. 3 S. 1, Abs. 5 S. 1 GVG). Es geht also nicht um eine Kontrolle des laufenden Verfahrens durch ein übergeordnetes Gericht, sondern um einen Ausgleich der Verzögerungsfolgen. Die vorgeschaltete Rüge soll allerdings zugleich einen gewissen präventiven Rechtsschutz bieten, weil sie das Gericht zu einer bevorzugten Behandlung des verzögerten Verfahrens veranlassen kann.

2. Verzögerungsrüge

Eine solche kann erhoben werden, wenn „Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird“ (§ 198 Abs. 3 GVG). Es müssen also Umstände vorliegen, die dem Rügenden Anhaltspunkte dafür liefern, dass das Verfahren keinen angemessen zügigen Fortgang nimmt. Hierbei kommt es auf die Gesamtdauer des Verfahrens von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss an, einschließlich etwaiger Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes oder Bewilligung von Prozess- oder Verfahrenskostenhilfe (§ 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG). Auch die Gehörsrüge nach § 321 a ZPO, § 44 FamFG gehört zum Verfahren; im vorangegangenen Verfahren bereits eingetretene Verzögerungen können allerdings durch eine erstmals im Rügeverfahren erhobene Verzögerungsrüge nicht mehr geltend gemacht werden.

Der Rügende (im Anwaltsprozess dessen Rechtsanwalt) muss gegenüber dem erkennenden Gericht schriftlich zum Ausdruck bringen, dass die Dauer des Verfahrens Anlass zur Besorgnis gibt. Er muss dabei nicht darlegen, aus welchen Umständen sich die Unangemessenheit der Verfahrensdauer ergibt und welche Alternativen zur Verfahrensgestaltung in Betracht kommen. Auf maßgebliche Umstände, die bisher nicht in das Verfahren eingeführt sind, muss er aber hinweisen; sie bleiben sonst bei der Bestimmung der angemessenen Verfahrensdauer unberücksichtigt (§ 198 Abs. 3 S. 4 GVG).

Wird ein anderes Gericht mit der Sache befasst (zum Beispiel Berufungsgericht) und verzögert sich die Erledigung dort weiter, ist eine neue Rüge zu erheben. Ansonsten ist eine erneute Rüge – außer bei neuen Umständen – erst sechs Monate nach Erhebung der früheren zulässig (§ 198 Abs. 3 S. 2, 5 GVG).

3. Entschädigungsklage

Sie ist frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge zulässig (§ 198 Abs. 5 S. 1 GVG). Eine frühere Klage wird durch Fristablauf nicht zulässig; endet das Ausgangsverfahren jedoch vor diesem Zeitpunkt, kann sogleich geklagt werden. In der Regel wird die Klage erst nach Abschluss des Verfahrens erfolgreich sein, weil sie voraussetzt, dass sowohl eine unangemessene unumkehrbare Verzögerung des Ausgangsverfahrens als auch bereits endgültig eingetretene Nachteile feststellbar sind. Sie muss aber spätestens sechs Monate nach Rechtskraft der verfahrensbeendenden Entscheidung oder der sonstigen Erledigung des Verfahrens erhoben werden (§ 198 Abs. 5 S. 2 GVG). Die Klage ist – je nach Rechtsweg – beim OLG, LAG, OVG, LSG oder BFH zu erheben. Es besteht Anwaltszwang.

Streitgegenstand ist kein Schadensersatzanspruch im Sinne von §§ 249, 252 BGB, sondern eine „angemessene Entschädigung“. Als Richtgröße gelten 100 Euro pro Monat (§ 198 Abs. 2 S. 3 GVG). In Betracht kommt auch eine andere Form der Wiedergutmachung, zum Beispiel der Ausspruch der Unangemessenheit (§ 198 Abs. 4 GVG). Der Rechtsanwalt sollte gleichwohl einen bezifferten Klageantrag stellen. § 201 Abs. 4 GVG ermöglicht bei Feststellung einer unangemessenen Dauer eine Kostenentscheidung, die sich nicht nach dem Erfolgsanteil, sondern nach Billigkeit bemisst.

III. Auswirkung auf sonstige Rechtsbehelfe

1. Untätigkeitsbeschwerde

Die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte hatte für Fälle eklatanter, auf eine Rechtsverweigerung hinauslaufender Verfahrensverzögerung (vor allem in familienrechtlichen Angelegenheiten) eine außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde zugelassen. Für diesen Rechtsbehelf ist nach Ansicht des BGH infolge der Einführung von §§ 198 ff. GVG kein Raum mehr. Er ist jetzt nicht mehr statthaft.

2. Verfassungsbeschwerde und Beschwerde zum EGMR

Auch diese Rechtsschutzwege wurden durch das Gesetz vom 24. November 2011 weitgehend verschlossen, denn sie erfordern die vorhergehende Erschöpfung des Rechtswegs. Dazu gehört auch das Entschädigungsverfahren nach §§ 198 ff. GVG. Das BVerfG lehnt nunmehr auch eine nachträgliche Feststellung der Grundrechtsverletzung durch überlange Verfahrensdauer ab, weil wegen der Möglichkeit der Verzögerungsrüge keine Wiederholungsgefahr mehr bestehe.

3. Richterablehnung

Eine solche ist möglich, wenn die Verzögerung aus Sicht einer verständigen Partei eine auf Voreingenommenheit beruhende Benachteiligung darstellt, was nur bei gröblichen, unzumutbaren Verzögerungen angenommen werden kann.

4. Dienstaufsichtsbeschwerde

Sie kann unabhängig von einem Vorgehen nach § 198 GVG erhoben werden und dazu führen, dass der Richter zu ordnungsgemäßer, unverzüglicher Erledigung der Amtsgeschäfte ermahnt wird (§ 26 Abs. 2 DRiG). Ein Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit liegt hierin nicht.

5. Amtshaftungsklage

Die Klage gegen den Dienstherrn des Richters nach § 839 BGB, Art. 34 GG ist neben der Entschädigungsklage nach § 198 GVG zulässig, denn es besteht keine Identität des Streitgegenstands. Sie richtet sich auf vollen Schadensersatz, erfordert jedoch den Nachweis eines schuldhaften Verhaltens des Gerichts. Das Spruchrichterprivileg gilt bei gerichtlicher Untätigkeit oder Verfahrensverzögerung nicht (§ 839 Abs. 2 S. 2 BGB).

IV. Praktische Auswirkungen

1. Zahl von Verfahren nach dem ÜGRG

Sie blieb dem Erfahrungsbericht zufolge, den die Bundesregierung im Auftrag des Bundestags für den Zeitraum vom 3. Dezember 2011 bis 31. Dezember 2013 erstellt hat, deutlich hinter den Erwartungen zurück (siehe Tab. 1). „Die befürchtete Klagewelle zu Lasten der Gerichte blieb… aus“, heißt es dort. Der daraus gezogenen Schlussfolgerung, „dass die Problematik unangemessener Verfahrensdauer in der deutschen Justiz quantitativ keinen großen Umfang hat“, ist insoweit zuzustimmen, als überlange Gerichtsverfahren, anders als zum Beispiel in Italien, bei den deutschen Gerichten nicht massenhaft, sondern eher singulär auftreten. Die geringe Zahl der durchgeführten Entschädigungsverfahren darf jedoch nicht zu dem Schluss verleiten, dass es sich um ein Phänomen von großem Seltenheitswert handelt. Dem widersprechen die Statistiken, die praktischen Erfahrungen und nicht zuletzt die oben wiedergegebenen Äußerungen des EGMR. Wesentlich näher liegt vielmehr die Annahme, dass an sich klageberechtigte Prozessparteien diese Möglichkeit nicht wahrnehmen, weil sie ihnen nicht bekannt ist oder weil sie sich nichts davon versprechen, was den Aufwand eines neuerlichen Prozesses rechtfertigen würde.

VerzögerungsrügenEntschädigungsklagenBis 31.12.2013 erledigtdavon mit Erfolg für Kläger
Zivilgerichte1.3611248827
Strafgerichtek.A.542712
Verwaltungsgerichte856483118
Finanzgerichte28725132
Arbeitsgerichte60411
Sozialgerichte3.74374932543
BVerfG7442410
Insgesamt6.3811.046526103

Tabelle 1: Verzögerungsrügen und Entschädigungsklagen. Die dem Evaluationsbericht der Bundesregierung für den Zeitraum 2012/2013 (BT-Drucks. 18/2950) entnommenen Zahlen können kein vollständiges Bild liefern, da in einigen Bundesländern keine entsprechenden Erhebungen durchgeführt wurden. Unberücksichtigt blieben auch die durch ein Massenverfahren beeinflussten Zahlen aus Niedersachsen (2597 Verzögerungsrügen, 274 Klagen).

2. Erfolg von Verzögerungsrügen

Den statistischen Angaben im Evaluationsbericht zufolge blieb es in den weitaus meisten Fällen bei der einmaligen Erhebung einer Verzögerungsrüge. Eine weitere Rüge folgte nur in etwa jedem zehnten Verfahren; in eine Entschädigungsklage mündete die Rüge bei den Zivilgerichten in ca. 9 Prozent, bei den Sozialgerichten in ca. 13 Prozent der Fälle. Das spricht für eine gewisse Präventivfunktion.

3. Erfolg von Entschädigungsklagen

Hier weisen die Statistiken der Gerichtsbarkeiten große Unterschiede auf, was angesichts der geringen Fallzahlen nicht verwundert. Zudem wird der unbestimmte Begriff der unangemessenen Dauer unterschiedlich interpretiert. Wie Tabelle 1 zeigt, endet aber eine nicht unerhebliche Zahl von Klagen mit einem für den Kläger positiven Ergebnis. Wenn die Klage abgewiesen wurde, lag dies in den weitaus meisten Fällen an der Verneinung einer unangemessenen Verfahrensdauer, seltener an der nicht ordnungsgemäßen Erhebung der Verzögerungsrüge.

Auffallend oft wurde statt auf eine Geldentschädigung nur auf die Feststellung unangemessener Verfahrensdauer erkannt. Soweit eine Geldentschädigung zugesprochen wurde, entsprach diese in der Regel der gesetzlichen Pauschale von 1.200 Euro pro Jahr. Eine Entschädigung für materielle Nachteile spielte rechtswegübergreifend so gut wie keine Rolle.

Die in den Urteilen ausgesprochenen oder durch Vergleich vereinbarten Entschädigungen beliefen sich im zweijährigen Berichtszeitraum auf 182.807,87 Euro zu Lasten der Länder und 1.400 Euro zu Lasten des Bundes. Hieraus errechnet sich ein durchschnittlicher Ertrag für die Kläger in Höhe von 1.924 Euro. Er ist, verglichen mit den vom EGMR bei unangemessener Verfahrensdauer festgesetzten Entschädigungsbeträgen, die sich oft in fünfstelliger Höhe bewegten, verschwindend gering.

4. Präventiveffekt

Hauptziel des ÜGRG ist nicht die Zuerkennung von Entschädigungen, sondern die Beschleunigung der Gerichtsverfahren. Der Evaluationsbericht der Bundesregierung geht auf diesen Aspekt jedoch überraschenderweise nicht ein. Dabei ergibt sich aus der Rechtspflegestatistik des Statistischen Bundesamtes ein klares, allerdings ernüchterndes Bild. Wie aus Tabelle 2 zu ersehen ist, dauern die Zivilprozesse bei den Land- und Oberlandesgerichten trotz rückläufiger Fallzahlen nach Einführung der Verzögerungsrüge länger als davor. Das ÜGRG hat somit seinen Zweck verfehlt.

20112013
LG 1. Instanz: durchschnittl. Dauer der Zivilprozesse mit str. Urteil13,4 Mte.14,2 Mte.
LG 1. Instanz: Anteil der Erledigungen nach mehr als 2 Jahren6,3 %7,0 %
OLG: durchschnittl. Dauer der Berufungsverfahren mit str. Urteil11,2 Mte.11,7 Mte.
OLG: Anteil der Erledigungen nach mehr als 2 Jahren3,8 %4,2 %
LG + OLG: durchschnittl. Dauer von Klageeingang bis Berufungsurteil29,7 Mte.30,2 Mte.
LG + OLG: Anteil der Erledigungen nach mehr als 4 Jahren9,1 %9,6 %
LG: insgesamt erledigte Zivilprozesse370.603348.651
OLG: insgesamt erledigte Berufungsverfahren52.31851.460

Tabelle 2: Entwicklung der Verfahrensdauer
Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 2.1.

Dass § 198 GVG keine ausreichende Prävention bewirkt, hat soeben auch der EGMR entschieden: Jedenfalls bei Verfahren, in denen die Dauer deutliche Auswirkungen auf das Familienleben hat, entspreche ein allein auf Wiedergutmachung ausgerichteter Rechtsbehelf nicht den Anforderungen des Art. 13 EMRK. Der deutsche Gesetzgeber muss also nachbessern.

5. Fazit

Der präventive Rechtsschutz wurde durch den faktischen Ausschluss von Untätigkeits-, Verfassungs- und Menschenrechtsbeschwerde erheblich verschlechtert: Die Verzögerung kann nur noch beim verzögernden Gericht geltend gemacht werden, durch Richterablehnung (die nur in eklatanten Fällen Erfolg haben kann und zudem weitere Verzögerungen verursacht), durch die Aufsichtsbeschwerde beim Dienstvorgesetzten (die trotz § 26 Abs. 2 DRiG oft an der richterlichen Unabhängigkeit scheitert) oder durch die Verzögerungsrüge nach § 198 GVG. Diese erfordert allerdings keine Reaktion des Gerichts; sie wird nicht verbeschieden. Außer einem gewissen Warneffekt kommt ihr nur die Bedeutung einer Voraussetzung für die spätere Entschädigungsklage zu.

Diese Klage verspricht indessen nur geringen Ertrag in Form einer nachträglichen, mehr symbolischen Kompensation. Eine unmittelbar verfahrensbeschleunigende Wirkung entfaltet sie nicht; ob schon die Möglichkeit einer solchen Klage verfahrenssteuernd wirkt, ist zumindest zu bezweifeln. Dass die durchschnittliche Verfahrensdauer jetzt länger ist als vor dem ÜGRG, spricht jedenfalls gegen die Effizienz seiner Regelungen.

Es kann davon ausgegangen werden (und die bisherigen Erfahrungen bestätigen dies), dass kaum eine Prozesspartei Interesse an einem derartigen Nachkarten hat, bei dem der ganze unerfreuliche Prozessverlauf noch einmal aufgearbeitet werden muss, nur um eine Wiedergutmachung von ein paar Hundert Euro zu erlangen. Auch für den Rechtsanwalt ist das Entschädigungsverfahren wegen des geringen Streitwerts bei hohem Aufwand ausgesprochen unwirtschaftlich. Er kann dem Mandanten zudem keine einigermaßen sichere Erfolgsprognose stellen, denn die Unangemessenheit der Verfahrensdauer wird nicht anhand von Normwerten oder ähnlichem festgestellt, sondern auf Grund einer genauen Nachprüfung des Verfahrensgangs einschließlich des Verhaltens der Verfahrensbeteiligten sowie Dritter; auch Bedeutung und Schwierigkeit des Verfahrens sind zu bewerten (§ 198 Abs. 1 S. 2 GVG), und die Rechtsprechung verlangt zusätzlich, die Aspekte der richterlichen Unabhängigkeit, der Vertretbarkeit der Verfahrensgestaltung, des rechtlichen Gehörs und des effektiven Rechtsschutzes einzubeziehen. Zu prüfen ist auch, ob vermeidbare Verfahrensverzögerungen im späteren Verlauf ausgeglichen wurden.

Es gilt – unabhängig davon, ob es sich bei dem Ausgangsverfahren um einen Zivilprozess oder ein Strafverfahren handelt – der Beibringungsgrundsatz. Der Klägeranwalt muss somit die Tatsachen vortragen und bei (zu erwartendem) Bestreiten des beklagten Landes beziehungsweise Bundes unter Beweis stellen, die eine unangemessene Dauer des Ausgangsverfahrens begründen. Das Entschädigungsgericht muss sodann anhand der Akten und weiterer Beweismittel die Ursachen für die lange Verfahrensdauer ermitteln und schließlich ein Gesamturteil über die Angemessenheit fällen. Dem geringen Effekt solcher Klagen steht somit ein unverhältnismäßig hoher Verfahrensaufwand gegenüber.

Da gegen die Entscheidung des Entschädigungsgerichts das oberste Bundesgericht angerufen werden kann, besteht einerseits die Chance auf eine einheitliche Beantwortung offener Rechtsfragen, andererseits aber die Gefahr, dass sich die Unverhältnismäßigkeit des Verfahrensaufwands noch vergrößert. Aus dem unangemessen lang dauernden Prozess entsteht somit ein neues, aufwändiges Verfahren, welches wiederum richterliche Arbeitskraft in hohem Maße bindet und damit Verzögerungen bei anderen Verfahren hervorrufen kann. Sollte das Entschädigungsverfahren zu lange dauern, können selbstverständlich auch dort Verzögerungsrüge und Entschädigungsklage erhoben werden. In letzter Konsequenz müssten Richter eingestellt oder freigesetzt werden, die jene Verfahren bearbeiten, zu denen es nicht gekommen wäre, wenn für die Ausgangsverfahren mehr Richter zur Verfügung gestanden hätten. Diese Situation trägt durchaus paradoxe Züge.

V. Konsequenzen für den Rechtsanwalt

1. Verzögerungsrüge

Ihre Erhebung ist ein absolutes Muss, sobald der Rechtsanwalt Anhaltspunkte für eine zögerliche Sachbehandlung des Gerichts erkennt. Das Gesetz verlangt zwar keine unverzügliche Rüge; sie muss aber ihrem Zweck entsprechend zu einem Zeitpunkt erhoben werden, zu dem eine Einflussnahme auf die Prozessführung des Gerichts noch möglich ist. Ohne vorangegangene Rüge kann nach § 198 Abs. 3 S. 1, Abs. 5 S. 1 GVG keine erfolgreiche Entschädigungsklage und damit wegen Nichterschöpfung des Rechtswegs auch keine Verfassungs- oder Menschenrechtsbeschwerde erhoben werden. Eine verspätete Rüge kann sich auf die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer oder Art und Höhe des Ausgleichs negativ auswirken. Damit ist für den Anwalt ein klarer Haftungsfall gegeben.

Die dem Evaluationsbericht zu entnehmende Zurückhaltung der Anwaltschaft bei der Erhebung der Verzögerungsrüge ist angesichts dessen unverständlich. Neben mangelnder Vertrautheit mit der neuen Rechtslage mag hierfür auch die Scheu vor einer atmosphärischen Belastung des Prozessklimas verantwortlich sein. Diesem Gesichtspunkt kann jedoch keine Relevanz zukommen. Die Verzögerungsrüge enthält, anders als die Dienstaufsichtsbeschwerde, keinen persönlichen Vorwurf gegen den Richter; sie richtet sich nicht an eine übergeordnete Stelle. Es handelt sich vielmehr nur um den Hinweis an das erkennende Gericht, dass die Besorgnis einer unangemessenen Verfahrensdauer gesehen wird. Hierfür ist weder eine besondere Form noch eine nähere Begründung vorgeschrieben. Es empfiehlt sich neben der
Bezugnahme auf § 198 GVG ein knapper Hinweis auf den Grund für die Besorgnis, damit die Rüge im eventuellen Entschädigungsprozess nicht als verfrüht und damit unwirksam angesehen werden kann. Umstände, die dem Gericht nicht bekannt sein können, sind auf jeden Fall mitzuteilen (§ 198 Abs. 3 S. 3, 4 GVG).

Damit die Rüge ihren Warnzweck erfüllen kann, ist sie spätestens nach 6 Monaten zu wiederholen. Sie löst keine Gerichtskosten, aber auch keine besondere Vergütung aus.

2. Entschädigungsklage

Ist es trotz ordnungsgemäßer Verzögerungsrüge zu einer unangemessenen Verfahrensdauer gekommen, muss der Rechtsanwalt den Mandanten auf die Möglichkeit der Entschädigungsklage, aber auch auf die unter Umständen begrenzten Erfolgsaussichten sowie darauf hinweisen, dass bei Unterbleiben auch keine Verfassungs- oder Menschenrechtsbeschwerde mehr möglich ist. Nicht selten wird bereits das Ankündigen einer solchen Klage zu einer Entschädigungszahlung im Vergleichswege führen, denn auch auf der Seite des Staates besteht wenig Interesse an der Durchführung derartiger Prozesse.

3. Amtshaftungsklage

Der neue § 198 GVG darf nicht den Blick auf die Möglichkeit einer Staatshaftung wegen verzögerter Amtsausübung (§ 839 Abs. 2 S. 2 BGB, Art. 34 S. 1 GG) verstellen. Der BGH verlangt hierfür zwar zum Schutz der richterlichen Unabhängigkeit, dass „bei voller Würdigung auch der Belange einer funktionstüchtigen Zivilrechtspflege das richterliche Verhalten nicht mehr verständlich ist“. Diese Hürde erscheint jedoch bei eklatanten Verfahrensverzögerungen, insbesondere in bereits länger anhängigen Verfahren, nicht unüberwindbar. Der Kläger kann sich hierfür auf die Rechtsprechung des BVerfG zur pflichtgemäßen Behandlung länger dauernder Verfahren berufen: Demnach verdichtet sich mit zunehmender Dauer des Verfahrens die mit dem Justizgewährleistungsanspruch verbundene Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens und dessen Beendigung zu bemühen. Es hat daher alle ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Verfahrensbeschleunigung zu nutzen und sich gegebenenfalls um gerichtsinterne Entlastungsmaßnahmen zu bemühen.

Da überlange Verfahrensdauern nach einer von den Präsidenten der Oberlandesgerichte veranlassten Untersuchung sehr oft auf die nachrangige Behandlung alter, umfangreicher oder schwieriger Verfahren zurückzuführen sind, dürfte eine haftungsbegründende Pflichtwidrigkeit des Gerichts in solchen Fällen kaum schwerer zu beweisen sein als die Unangemessenheit der Verfahrensdauer nach § 198 GVG.

Die zur Verteidigung oftmals angeführte Überlastung des Gerichts räumt den Verschuldensvorwurf nicht aus, denn insoweit greift die Rechtsprechung des BVerfG zum Organisationsverschulden ein:

Es obliegt den Ländern, für eine hinreichende materielle und personelle Ausstattung der Gerichte zu sorgen, damit diese ihrem Rechtsprechungsauftrag in einer Weise nachkommen können, die den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG genügt.

Die Verletzung dieser Pflicht begründet Amtshaftungsansprüche. Dem Richter, der sich zur zeitgerechten Bearbeitung umfangreicher Verfahren außerstande sieht, ist schon zum Ausschluss eines Regresses nach Art. 34 S. 2 GG dringend zur rechtzeitigen Anzeige seiner Überlastung zu raten. Die Darlegungs- und Beweislast für eine Amtspflichtverletzung, sei es durch individuelles richterliches Fehlverhalten, sei es in Form eines Organisationsversäumnisses, liegt zwar beim Kläger; hinsichtlich interner Abläufe und der Einzelheiten eventueller Organisationsmängel kommt ihm jedoch eine sekundäre Darlegungslast des Beklagten zugute. Auch für die Amtshaftung ist wichtig, dass rechtzeitig eine Verzögerungsrüge erhoben wird: Dem Anspruch könnte sonst § 839 Abs. 3 BGB entgegengehalten werden, was wiederum zu Regressforderungen gegen den Anwalt führen könnte.

4. Schlussfolgerung

Der Rechtsanwalt wird daher nicht umhin können, bei langdauernden Gerichtsverfahren neben der durch Verzögerungsrüge vorbereiteten Entschädigungsklage auch eine Amtshaftungsklage in Betracht zu ziehen, falls sich ein gravierendes Versäumnis bei der richterlichen Prozessleitung oder ein Organisationsmangel bei der Justizverwaltung als Ursache ausmachen lässt. Schon die Anmeldung von Schadensersatzansprüchen kann eher zu einer Wiedergutmachung für den Mandanten sowie zu Verbesserungen des Justizbetriebs führen als die Entschädigungsklage nach § 198 GVG, mit der – wie gezeigt – der Rechtsschutz eher verschlechtert wurde.

Im Übrigen sollte sich der Rechtsanwalt auch nicht davon abhalten lassen, trotz Nichterhebung der Entschädigungsklage den EGMR anzurufen. Wie dessen Urteil v. 15. Januar 2015 gezeigt hat, kann dann zumindest in solchen Fällen, die besonders auf eine beschleunigte Entscheidung angewiesen sind, eine Verletzung des Art. 13 EMRK gerügt werden, solange der deutsche Gesetzgeber keinen wirksamen Rechtsbehelf schafft. Besser als jede nachträgliche Aufarbeitung überlanger Verfahren ist freilich deren Verhinderung.